Reg dich nicht auf – warum ich lerne, Gelassenheit zu üben
Ich habe vor Kurzem auf Instagram ein kurzes Video von Vera F. Birkenbihl gesehen – und es hat mich auf eine Weise berührt, wie ich es gar nicht erwartet hätte.
Sie sprach darüber, dass man sich nie länger als 15 Sekunden über etwas aufregen sollte.
Fünfzehn Sekunden!
Ich musste erst lachen und dachte: Wie soll das denn gehen?
Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dass da eine große Wahrheit dahintersteckt.
Sie erzählte, dass sie selbst von einer Frau gehört hatte, die in einem Vortrag genau das empfohlen hatte: sich nicht länger als 15 Sekunden aufzuregen. Und wenn man das nicht schafft, soll man mit zwei Minuten beginnen und sich langsam heruntertrainieren, bis man irgendwann bei diesen magischen 15 Sekunden landet.
Erst erschien mir das völlig unrealistisch – wer schafft das schon? Doch dann habe ich an mein eigenes Leben gedacht, an all die Male, in denen ich mich aufgeregt habe, und mir wurde klar: Ich will das versuchen.
Denn ehrlich gesagt – wie oft habe ich Stunden, Tage oder sogar Wochen damit verbracht, mich über Dinge zu ärgern, die längst vergangen waren? Über Worte, die gefallen sind, über Situationen, die ich nicht mehr ändern konnte, über Menschen, die mich verletzt haben. Ich habe so viel Zeit und Energie in Ärger gesteckt, als wäre er etwas Wertvolles, das man pflegen muss.
Aber in Wirklichkeit ist Ärger ein Dieb. Er stiehlt Zeit, Energie, Kreativität, Lebensfreude.
Ich erinnere mich an eine Phase in meinem Leben, in der ich mich über Kleinigkeiten furchtbar aufregen konnte – manchmal war es ein unfreundliches Wort, manchmal ein Missverständnis, manchmal einfach nur eine dumme Kleinigkeit. Und anstatt loszulassen, kreisten meine Gedanken ständig darum. Ich habe innerlich diskutiert, verteidigt, mich gerechtfertigt, mir vorgestellt, was ich hätte sagen sollen. Ich habe diese inneren Gespräche geführt, die nie ein Ende nehmen.
Und während ich mich innerlich im Kreis drehte, lief das Leben draußen einfach weiter – ohne mich.
Das Schlimme ist: Man merkt das oft gar nicht. Man denkt, man „denkt nach“ oder „verarbeitet etwas“. In Wahrheit hält man fest, und zwar an etwas, das einem nicht guttut.
Ich glaube, viele Menschen tun das – nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie es nie anders gelernt haben. Schon von klein auf wird uns beigebracht, dass Ärger eine Form von Reaktion ist, die Stärke zeigt. „Lass dir das nicht gefallen!“ heißt es, oder: „Da musst du dich aufregen!“
Aber ich glaube heute, das Gegenteil ist wahr.
Stärke zeigt sich nicht im Aufregen – Stärke zeigt sich im Loslassen.
Ich habe vor Jahren das Buch „Reg dich nicht auf“ gelesen. Damals war ich noch nicht so weit, seine Botschaft wirklich zu verstehen. Es klang zwar logisch, aber im Alltag schien es mir unmöglich, ruhig zu bleiben, wenn etwas schiefging oder jemand ungerecht zu mir war.
Jetzt, viele Jahre später, sehe ich das anders.
Nicht, weil ich mich plötzlich verändert hätte, sondern weil ich das Leben anders betrachte. Ich habe erkannt, dass kein Problem der Welt dadurch kleiner wird, dass ich mich aufrege.
Im Gegenteil: Meine Aufregung macht es nur größer – und sie macht mich kleiner.
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich so viele Situationen, in denen ich mich hineingesteigert habe.
Damals war es ernst, aufwühlend, wichtig – ich konnte nicht schlafen, dachte tagelang darüber nach.
Und jetzt, Jahre später, weiß ich oft nicht einmal mehr, worum es damals überhaupt ging.
Wie viele Stunden, Tage, Wochen habe ich damit verbracht, mich mit Dingen zu beschäftigen, die heute keine Bedeutung mehr haben?
Zu viele.
Und genau das will ich ändern.
Ich will lernen, nicht mehr festzuhalten, sondern loszulassen.
Ich will lernen, diese berühmten 15 Sekunden zu üben – oder wenigstens mit zwei Minuten zu beginnen.
Wenn ich ehrlich bin, gelingt mir das nicht immer. Ich bin ein emotionaler Mensch, und manchmal erwischt mich etwas einfach mitten im Leben – eine Ungerechtigkeit, ein scharfes Wort, eine Enttäuschung.
Aber in solchen Momenten erinnere ich mich inzwischen an diesen Satz: „Reg dich nicht länger als 15 Sekunden auf.“
Und ich atme tief durch.
Ich sage mir innerlich: Das ist jetzt eine Prüfung.
Und dann beobachte ich mich selbst. Ich merke, wie die Welle kommt – dieser Impuls, mich hineinzusteigern – und ich versuche, sie vorbeiziehen zu lassen.
Nicht immer klappt es. Aber jedes Mal, wenn ich es schaffe, fühle ich mich freier.
Ich glaube, Gelassenheit ist nichts, was man „hat“ oder „nicht hat“.
Gelassenheit ist eine Entscheidung, die man immer wieder neu trifft.
Es ist wie ein Muskel, den man trainieren muss – und er wächst mit jedem Versuch, ruhig zu bleiben.
Ich habe beschlossen, mir selbst Zeit zu schenken.
Zeit, die ich früher in Ärger investiert hätte.
Zeit, die ich jetzt in schöne Dinge stecke – in Schreiben, Lesen, Musik, Spaziergänge, Gespräche.
All das füllt mein Leben mit etwas, das viel größer ist als jeder Ärger: mit Frieden.
Manchmal, wenn ich an einem dieser typischen Tage bin, an denen einfach alles schiefläuft, stelle ich mir vor, wie viel Energie ich jetzt in diesen Moment stecken könnte, wenn ich mich ärgern würde – und dann überlege ich, was ich stattdessen damit anfangen könnte.
Einen Text schreiben.
Ein Buch lesen.
Eine Tasse Tee trinken.
Lachen.
Ich denke, das ist das größte Geschenk, das man sich selbst machen kann:
die eigene Energie nicht mehr an Dinge zu verschwenden, die einem nicht guttun.
Im Alter wird einem das besonders bewusst.
Man erkennt, dass Zeit nicht unendlich ist, dass jeder Tag zählt.
Und dann begreift man: Ich möchte meine Tage nicht damit füllen, mich zu ärgern – ich möchte sie damit füllen, zu leben.
Ich will mich üben – nicht in Aufregung, sondern in Ruhe.
Ich will lernen, wie man loslässt.
Und vielleicht werde ich es nie schaffen, mich wirklich nur 15 Sekunden aufzuregen – aber ich werde versuchen, jeden Tag ein bisschen schneller wieder in meinen Frieden zurückzufinden.
Denn Gelassenheit ist nichts anderes als Liebe zum Leben.
Und ich habe beschlossen:
Ich liebe mein Leben – zu sehr, um es an Ärger zu verschwenden. 🌿
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