Leseprobe 1 Rückenwind

 




Hanna stand im Bad und starrte in den Spiegel, als würde sie sich selbst zu einem Vorstellungsgespräch begrüßen wollen.

„Na, du wilde Schönheit. Bereit für ein neues Abenteuer – oder wenigstens für Kaffee?“, murmelte sie und zog eine Augenbraue hoch.

Die Haare? Frisch gewaschen, aber rebellisch. Der Teint? Sagen wir: mit Charakter. Und die Fältchen um die Augen? Künstlerisch. Fast schon dekorativ. Vielleicht ein bisschen viel Schatzkarte im Gesicht – aber hey, wer sagt denn, dass Abenteuer nur draußen stattfinden?

Früher war der Blick in den Spiegel eher ein Boxenstopp: Frisur okay? Prima. Und los. Make-up? Niemals ihr Ding. Heute aber blieb sie hängen. Irgendwas war… anders.

„Hanna, wer zum Kuckuck bist du eigentlich?“, fragte sie sich – halb nachdenklich, halb in Talkshow-Moderatorinnen-Tonfall.

Seit ein paar Monaten war sie offiziell Rentnerin. Die große Freiheit, die in der Werbung immer nach Sonnenuntergangswein klang, fühlte sich eher nach „Montag. Schon wieder.“ an. Sie hatte Listen gemacht. Listen voller Energie! Reisen! Französisch auffrischen! Leute besuchen! Salto rückwärts mit Lebensfreude!

Jetzt lagen die Listen irgendwo. In einer Schublade. Unter anderem Kram. Vermutlich hinter dem Ersatzakku vom Akkuschrauber.

Stattdessen bestand das Leben aus „Was esse ich heute?“ und „War ich gestern schon in der Drogerie oder bilde ich mir das ein?“

Sie fuhr sich durch die Haare, grinste und schüttelte den Kopf.

„Hanna, du lebst das Highlife. High-Ruhepuls vielleicht.“

In der Küche röchelte die Kaffeemaschine wie ein Science-Fiction-Bösewicht, und auf dem Sofa schnarchte Lotte, ihre Katze, eingerollt wie ein pelziger Kommafehler. Absolut zuverlässig, wenn auch nicht sonderlich ambitioniert.

Mittwoch. Einfach nur Mittwoch. Aber irgendwie lag da was in der Luft.


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