Leseprobe Teil 3 Rückenwind
Später zu Hause: fast Totenstille. Abgesehen von Lotte, die an der Tür schnurrte wie ein lebendiger Türsensor mit Kuschelmodus.
Hanna blieb im Flur stehen. Wo früher mal ihre Aktentasche hing, baumelte jetzt nur noch eine Strickjacke, die aussah, als hätte sie die beste Zeit mit Teetassen und Sofadecken verbracht.
Sie strich über den Stoff – fast so, als würde sie einen alten Gedanken streicheln.
Im Wohnzimmer zog sie eine Schublade auf. Wissend drei Kinder am Strand zwei Jungs und in der Mitte ein paar flüssiges Mädchen mit Zöpfen Blick aufs Meer als hätte sie denn alleine: da liegt was Wichtiges. Zwischen Landkarten, Zettelchaos und einem Bibliotheksausweis aus dem vorletzten Jahrzehnt: ein Foto.
Etwas wellig, leicht angeknabbert an den Rändern – aber emotional topfit.
Drei Kinder am Strand. Zwei Jungs. Und in der Mitte: ein barfüßiges Mädchen mit Zöpfen, rotem Eimer und dem Blick aufs Meer.
Hanna plumpste aufs Sofa. Foto in der Hand, Herz im Galopp. Das war Le Croisic. Bretagne. 1969. Damals, als Ferien noch rochen wie nasse Badeanzüge und frisch aufgebackene Baguettes.
Der Peugeot ihrer Eltern klang wie ein röchelndes Akkordeon, die Matratze im Kofferraum war tagsüber Hüpfburg, nachts Schlafplatz – Multifunktion deluxe.
Ihre Mutter hatte zum ersten Mal seit Ewigkeiten herzhaft gelacht. Der Vater? Schnitt Baguette wie ein Profi – allerdings auch sich selbst regelmäßig.
Und Hanna? Aus Prinzip Barfuß.
Sie hatte Jeanne getroffen – ein französisches Mädchen mit Lockenmähne und null Deutschkenntnissen. Aber wer braucht Sprache, wenn man Strand hat?
Und dann war da das Meer. Groß. Offen. Wie ein sehr netter Onkel, der einen einfach machen lässt.
Hanna lächelte.
Vielleicht war das Foto kein altes Bild. Vielleicht war’s ein Wink. Oder ein Ruf. Oder die schriftliche Einladung zu Teil zwei ihres Lebensfilms.
Sie griff ihr Tagebuch, klappte es auf und schrieb:
To-do-Liste, Version „Ich hab’s kapiert“:
Nach Le Croisic.
Französisch? Eingeschlafen. Aber hey – Bonjour krieg ich noch hin.
Ich will endlich irgendwas machen! Fühlen leben!
Ich will zurücklaufen. Zu mir.
Vielleicht auch radeln. Mit Helm, versteht sich.
Sie steckte das Foto zwischen die Seiten. Der Nachmittag war immer noch ruhig. Aber plötzlich… freundlich ruhig.
Lotte sprang aufs Sofa, rollte sich ein wie ein flauschiger Donut und schnurrte, als hätte sie „Endlich!“ verstanden.
„Es wird Zeit“, sagte Hanna leise. Aber mit dieser Klarheit, bei der selbst Tapeten kurz zusammenzucken.
Am frühen Abend fläzte sie sich wieder aufs Sofa. Lotte kletterte auf ihre Beine, drehte sich dreimal im Kreis wie ein Hund mit Identitätskrise und schlief sofort ein.
Draußen? Grau. Drinnen? Gemütlich. Kerze an. Einfach so. Weil’s schön ist.
Dann kam der Gedanke: Wie sag ich das den Kindern?
Es klingelte.
Marlis. Im Arm: Eintopf. Im Gesicht: das volle „Du redest, ich hör zu“-Lächeln.
„Ich hab zu viel gekocht“, sagte sie. Übersetzung: Ich bring Essen und will Klatsch.
„Gott sei Dank“, meinte Hanna. Und öffnete die Tür zu Küche, Topf und Herz.
Lotte umschlich ihre Beine wie eine flauschige Sicherheitskontrolle. Die beiden Frauen tranken Wein, aßen, plauderten. Und Hanna erzählte – von ihrer Idee, von ihren Plänen, von dem Bauchgefühl, das sagte: „Mach was! Jetzt!“
Marlis hörte zu, nickte und sagte schließlich:
„Das ist mutig. Die meisten warten auf Veränderung. Du schlüpfst einfach selbst in die Abenteuerjacke.“
Hanna kicherte. „Was, wenn ich dabei komplett den Verstand verliere?“
Marlis grinste.
„Dann ist es wenigstens dein eigener Verstand. Und du weißt, wo du ihn wiederfindest.“
Sie lachten beide. Und in der kleinen Küche mit Eintopfduft und Weingläsern fühlte sich Hannas Idee plötzlich nicht mehr verrückt an.
Sondern genau richtig.
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