Leseprobe Teil 2 Rückenwind

 





Hanna zog den Bademantel enger, tappte ins Schlafzimmer und riss das Fenster auf. Ein Windstoß – freundlich, frisch und ein bisschen nach Petersilie (oder war’s Minze?) – wehte ihr ins Gesicht. Hallo, Welt.

Vielleicht war das der Duft von Aufbruch. Egal. Es fühlte sich gut an.

Sie schenkte sich Kaffee ein. Der Dampf kringelte sich in die Luft wie ein Gedanke, der noch nicht wusste, ob er ein Plan oder nur ein Hirngespinst sein wollte.

Lotte sprang auf ihren Stammplatz am Fensterbrett – wie eine Sekretärin, die ihren Terminkalender aktualisiert. Hanna kraulte ihr den Kopf. Die Katze schnurrte wie ein Kleinmotor und schielte Richtung Kühlschrank.

Der Blick war eindeutig. Salami. Jetzt. Sofort.

„Du bist wenigstens berechenbar“, sagte Hanna und lachte. Sie öffnete den Kühlschrank, reichte ein Stück rüber, und Lotte nahm es mit der königlichen Gelassenheit einer Katze, die ganz genau weiß, dass sie die wahre Chefin ist.

Der Tag war kaum angelaufen, und trotzdem fühlte es sich für Hanna an, als hätte sie Level Eins vom Rentner-Spiel schon durchgespielt. Nur… was kam danach?

Die Vormittage schlichen so langsam dahin, dass selbst ihre Zimmerpflanzen anfingen, sich über das Tempo zu beschweren. Gespräche? Gab’s hauptsächlich mit Marlis aus dem dritten Stock. Und auch nur, wenn Marlis nicht gerade im Treppenhaus mit dem Staubsauger flirtete.

Hanna rührte in ihrem Kaffee. Der war inzwischen kalt. Na toll.

„Da fehlt was“, dachte sie. „So ein bisschen… Kick und Drive.“

Sie fühlte sich nicht traurig, aber so ein kleines bisschen „Standby“. Als hätte ihr innerer Fernseher auf Pause gedrückt.


Marlis dagegen war das Gegenteil: eine Frau wie ein Überraschungsei. Laut, bunt, unberechenbar – immer mit einem Spruch auf den Lippen und einem Lied auf den Stimmbändern.

Als das Telefon klingelte, wusste Hanna sofort: Marlis.

„Ich hab dem Rosmarin das Leben gerettet – der hing schon wie ein Teenie nach Matheunterricht! Kaffee? Ich hab gerade welchen aufgebrüht!“, trällerte es.

„Ich bin unterwegs! Ich zieh mir nur schnell was über.“

„Sehr gut. Es gibt auch Kuchen!“


Kurze Zeit später saßen sie in Marlis’ Küche. Zitronenwachstuch, getrocknete Blumen, Steingutkanne – ein Ort, irgendwo zwischen Retro und Retro-Retro.

Marlis machte Kaffee wie Oma früher – mit Geduld und ohne Technik. Und das Ergebnis war pures „Zuhause“.

Hanna nahm einen Schluck. Schmeckte wie: früher als die Welt noch in Ordnung war ich will einfach mal los

Der Marmorkuchen war ein Gedicht. Locker, saftig, mit Rissen wie eine kleine Landkarte. Und ausnahmsweise aß Hanna ihn nicht sofort. Sie hatte gerade Gedanken im Kopf, die etwas mehr Platz brauchten.

„Was ist los?“, fragte Marlis plötzlich. „Du guckst, als würdest du versuchen, durch den Kuchendampf zu meditieren.“

Hanna zögerte, dann platzte es aus ihr heraus:

„Ich will einfach mal los. Irgendwohin. Nicht wegrennen – hinlaufen. Zu mir. Verstehst du? Ich muss raus aus dem Trott. Wandern, radeln, irgendwas. Hauptsache, ich bewege was.“

Marlis sah sie an. Und dieses Glitzern in ihren Augen? Oh ja – das war echtes Verständnis mit Sahnehaube.

„Oh, Hanna. Weißt du eigentlich, dass ich das auch mal gemacht habe?“, sagte sie und goss sich nach.

Was folgte, war eine Geschichte aus Frankreich, aus der Provence, aus den Alpen – voll kleiner Herbergen, großer Gefühle und einem barfüßigen Jungen in Norditalien, der fragte: „Signora, was suchen Sie?“ – und Hannas künftiger Lieblingssatz war geboren: „Mich.“

Und da saßen sie, in der Küche,mitten im Leben. Zwei Frauen, zwei Tassen, ein Plan, der langsam Form annahm.

Hanna grinste.

Vielleicht war ja heute der Anfang. Von allem.

Marlis lachte, als hätte sie gerade an etwas leicht Verbotenes gedacht, wurde dann aber plötzlich ganz feierlich.

„In Kroatien hab ich gestoppt. Kurz vor Dubrovnik. Da war dieser Strand – die Adria sah aus, als hätte jemand Glitzerkonfetti reingeschüttet. Ich stand da, mit Sand in den Schuhen und Sonnencreme überall, und wusste plötzlich: Zack, angekommen. Nicht geografisch – innerlich!“

Sie klopfte Hanna freundschaftlich auf den Arm, als hätte sie gerade ein Geheimrezept für innere Ruhe verraten.

„Weißt du, ich hab mich unterwegs nicht neu erfunden. Ich hab mich bloß wieder eingesammelt. So Stück für Stück. Und das reicht völlig.“

Dann kam das obligatorische Marlis-Zwinkern.

„Wenn du also losziehst – tu’s. Aber vergiss nicht: Ich bin jetzt offiziell deine Gießvertretung. Und Lotte bekommt selbstverständlich täglich ein Stück Wurst. Vertraglich zugesichert. Mit Siegel.“

Sie sah Hanna so ernst an, dass es fast feierlich wirkte. Fast.

„Ich gieße. Ich füttere. Ich geb sogar den Pflanzen Namen, wenn’s hilft.“


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